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Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) — Transkript
Sascha Tapken im Interview mit Jens Franke von nion digital über digitale Barrierefreiheit als Herausforderung und Chance
Jens Franke ist Mitgründer und Geschäftsführer von nion digital mit mehr als 20 Jahren Erfahrung in der Digitalbranche. Neben seiner Arbeit als Berater und Entwickler an wegweisenden Projekten für renommierte Unternehmen teilt er mit Lehraufträgen an mehrere Hochschulen in Europa, als Speaker oder als Autor in Fachzeitschriften sein Wissen.
Wie bist du persönlich auf das Thema Barrierefreiheit aufmerksam geworden?
Eine sehr gute Frage. Mein erster Kontakt damit war sehr früh. Als ich etwa 7–8 Jahre alt war, habe ich meine Oma regelmäßig im Rollstuhl zu Terminen wie Arzt oder Friseur gefahren. Dabei erlebte ich Barrieren, die mir vorher nie aufgefallen waren. In meinen frühen Jahren in der Digitalbranche stand oft die »vermeintliche« Kreativität im Vordergrund – der Drang zur Selbstverwirklichung war ehrlicherweise größer als die Rücksicht auf andere. Seit etwa 10 Jahren hat bei uns im Team ein Umdenken stattgefunden: Barrierefreiheit ist für uns zum Fundament jeder guten Website und jedes Portals geworden.
Welche Rolle spielt Barrierefreiheit bei nion digital – strategisch wie operativ?
Eine fundamentale Rolle: Barrierefreiheit ist bei uns kein optionaler Posten im Angebot. Sie ist das Fundament für jedes unserer Digitalprodukte, ob Website oder App. Das schöne bei uns im Team ist, dass für keine*n Accessibility eine lästige zusätzliche Arbeit ist. Alle verstehen die Wichtigkeit.
“Alle Menschen sollen miteinander kommunizieren, voneinander lernen und gemeinsam gestalten können – schnell und ohne künstliche Barrieren.”
Gibt es ein Leitbild oder eine Vision, die deine Arbeit im Bereich „inklusive digitale Erlebnisse“ prägt?
Unser Leitbild baut auf der Kernidee des Internets auf: Alle Menschen sollen miteinander kommunizieren, voneinander lernen und gemeinsam gestalten können – schnell und ohne künstliche Barrieren. Tim Berners-Lee, der Erfinder des WWW, gründete mit dieser Idee 1994 das World Wide Web Consortium (W3C) mit dem Fokus Offenheit, Barrierefreiheit und Interoperabilität im Web.
Welche gesetzlichen Anforderungen gelten aktuell für barrierefreie Websites in Deutschland und Europa? (z. B. Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, BITV 2.0, EU-Web Accessibility Directive, WCAG 2.1)**
In der EU und ihren Mitgliedsstaaten müssen öffentliche Stellen ihre Websites und Apps bereits seit Mitte 2019 nach der EU-Richtlinie 2016/2102 barrierefrei gestalten. Die Umsetzung regelt in Deutschland die BITV 2.0. Die EU-Richtlinie 2019/882 dagegen definiert die Anforderungen für den privaten Sektor und wird in Deutschland durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) definiert, das zum 28. Juni 2025 in Kraft tritt. Technisch orientieren sich alle Vorgaben an der Norm EN 301 549, die die WCAG 2.1 auf Level AA verbindlich vorschreibt.
Welche Unternehmen oder Organisationen sind laut Gesetz verpflichtet, barrierefreie Angebote bereitzustellen?
In Deutschland alle Unternehmen, die digitale Produkte oder Dienstleistungen wie Online-Shops und E‑Commerce-Plattformen, Online-Banking & Bezahldienste, Telekommunikationsdienste (z. B. Vertragsportale), Personenbeförderungsdienste (z. B. Online-Ticketverkauf, Apps von Verkehrsanbietern) anbieten. Ausgenommen sind lediglich Kleinunternehmen mit weniger als 10 Beschäftigten und weniger als 2 Mio. € Jahresumsatz.*
Was bedeutet das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) konkret für privatwirtschaftliche Unternehmen ab 2025?
*Ganz kurz gesagt, bedeutet es, dass ihre digitalen Angebote und Inhalte wahrnehmbar sein müssen (z. B. durch Alternativtexte und Kontraste), bedienbar (z. B. per Tastatur steuerbar), verständlich (klare Sprache und Navigation) und robust, also technisch so umgesetzt, dass sie mit Hilfsmitteln wie Screenreadern funktionieren. Jede Website und App braucht außerdem eine leicht zugängliche Barrierefreiheitserklärung mit Angaben zu noch vorhandenen Mängeln und einem Feedback-Mechanismus für Nutzer*innen.
“Wenn digitale Angebote barrierefrei umgesetzt werden, wirkt sich das positiv auf das gesamte Unternehmen aus.”
Wie schätzt du das Bewusstsein und die Bereitschaft von Unternehmen ein, diesen gesetzlichen Vorgaben zu entsprechen?
Wie so oft wird mehr über die Pflichten als über die Chancen gesprochen. Unser Problem ist auch hier das Framing. Nicht nur drohen bei Verstößen Bußgelder, viel entscheidender ist: Unternehmen schließen potentielle Kund*innen aus. Wenn jedoch digitale Angebote barrierefrei umgesetzt werden, wirkt sich das positiv auf das gesamte Unternehmen aus: Conversions steigen, Inhalte werden besser und schneller gefunden, die positive Außenwirkung wird gestärkt und vieles mehr.
Welche Rolle spielen Nutzer*innen mit Einschränkungen in eurem Entwicklungsprozess? Arbeitet ihr mit Tests oder Fokusgruppen?
Ganz ehrlich: Zu selten, weil es oft ein Budget-Thema ist. Wir können jedoch auf einem großen Wissensschatz aufbauen und so viele Szenarien wie möglich selbst testen.*
Was sind die größten Mythen oder Missverständnisse zum Thema Barrierefreiheit in der Digitalbranche?
Tatsächlich gibt es zahlreiche Mythen und Missverständnisse über Barrierefreiheit. Die Hartnäckigsten sind wahrscheinlich: Menschen mit Behinderung nutzen meine Website bzw. das Web nicht. Eine Website barrierefrei zu machen ist kostspielig und zeitaufwändig. Und Barrierefreiheit schränkt Design oder Funktionalität ein. All das lässt sich leicht widerlegen. Wir haben dazu auch eine Microsite veröffentlicht, um diese Vorurteile und Fehlinformationen abzubauen: https://a11y-myths.nion-digital.com/de/
Wie kann Barrierefreiheit als Innovationsfaktor oder Wettbewerbsvorteil genutzt werden – auch jenseits gesetzlicher Pflichten? (Thema Werbeanzeigen)
Ein einfaches Beispiel: Google und andere Suchmaschinen ranken Websites besser, die zugänglicher sind. Diese Websites zahlen außerdem weniger für Ads. Sie haben letztendlich mehr Nutzer*innen und somit steigen auch entsprechend die Chancen für höhere Einnahmen. Ist Barrierefreiheit also ein Business-Case?
Inwiefern profitieren auch Nutzer*innen ohne Einschränkungen von barrierefreien Websites?
Barrierefreiheit verbessert die allgemeine Benutzererfahrung und den Bedienkomfort einer Seite. Somit haben wir alle einen großen Vorteil davon.
Wie integriert ihr Barrierefreiheit bereits in der frühen Projektphase – z. B. in Strategie- oder Konzeptworkshops?
Durch eine frühe und enge Zusammenarbeit der verschiedenen Fachbereiche, die Einfluss auf Barrierefreiheit haben. Das heißt nicht nur UX und Technik, sondern zum Beispiel auch Produkt- und Contentmanagement, und durch frühzeitiges, kontinuierliches Evaluieren und Testen im gesamten Prozess.
“Es direkt von Beginn an mitzudenken, sorgt in der Regel nicht für Mehrkosten, vor allem, wenn man den Business-Case richtig rechnet.”
Welche Spielarten von Projektmanagement gibt es – Neuprogrammierung vs. Umbau?
Es direkt von Beginn an mitzudenken, sorgt in der Regel nicht für Mehrkosten, vor allem, wenn man den Business-Case richtig rechnet. Es nachträglich zu optimieren oder zu verbessern, hängt sehr von dem technischen Fundament und der Komplexität ab. Es ist jedoch am Ende elementar, um wettbewerbsfähig zu bleiben.*
Kannst du ein Beispiel geben, wie ein Accessibility Audit bei euch abläuft?
Der von uns angebotene Audit ist eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustands gegen die gegebenen Anforderungen. Die Ermittlung erfolgt auf Basis der wichtigsten Referenzseiten zu einem fixen Zeitpunkt. Sprich es ist logisch, dass sich durch Änderung an Inhalt oder Form, zum Beispiel an der semantischen Struktur oder an Alt-Texten, im Laufe der Zeit der Zustand verändern (kann). Auf Basis der Erkenntnisse unseres Audits schlagen wir Maßnahmen vor, um die Schwachstellen zu beheben. Oft bzw. alternativ wird auch eine textliche Erklärung zur Barrierefreiheit erstellt, die den Ist-Zustand in Form einer Unterseite auf der Website, vgl. mit einer Datenschutz-Erklärung, öffentlich dokumentiert. Es ist als eine Art dokumentiertes Versprechen zur Behebung der Schwachstellen.
Welche typischen Schwachstellen treten bei Nichtbeachtung von Barrierefreiheit auf – z. B. im UX-Design oder im Code?
Die neuralgischen Stellen sind oft Navigationen, Formulare und Bilder & Videos mit schlechten oder fehlenden Alt-Texten.
Gab es bei Projekten schon einmal Aha-Erlebnisse, wo z. B. vermeintlich „modernes“ Design Barrieren erzeugt hat?
Trends sind immer mal wieder ein Treiber für das Verschieben von bekannten Grenzen. Nicht selten werden dabei Grenzen überschritten. Das ist Teil vom Innovieren, jedoch braucht es oft einige Zeit, um die Zugänglichkeit wiederherzustellen. Ein gutes Beispiel sind hier die bekannten Probleme um das viel gesehene Burger-Menü.
Wie geht ihr mit Zielkonflikten zwischen kreativen Designideen und strengen WCAG-Kriterien um?
Der Zielkonflikt ist mehr Mythos als Realität. Mit dem richtigen Team wird beides möglich. Zum Beispiel entwickeln wir gerade eine App, die über die WCAG-Kriterien hinweg durch Micro-Animations und haptisches Feedback zeigt, wie kreative UX ein Motor für Zugänglichkeit wird.
Welche Trends und Technologien siehst du im Bereich Accessibility – etwa im Zusammenhang mit KI oder Voice Interfaces?
Sprache ist durchaus eine sehr große interkulturelle Barriere. Voice-Interfaces können für einen Service/eine Marke eine Art des Zugangs sein, die Barrieren für gewisse Zielgruppen abbaut und die Interaktion mit Maschinen natürlicher macht. Als alleinige Lösung wird es nicht fungieren, weil ganz einfach gesagt nicht jede*r sprechen kann. KI selbst als Technologie kann generell ein Brückenbauer für Zugänglichkeit werden. Es kann zum Beispiel helfen, bei der automatischen Generierung von Alt-Texten für Bilder oder um anspruchsvolle Texte in vereinfachte Sprache umzuwandeln.
Welche ersten Schritte empfiehlst du Unternehmen, die Barrierefreiheit jetzt aktiv angehen wollen?
Heute anfangen, jede Barriere weniger erhöht für jemanden die Zugänglichkeit. Und das Bewusstsein: Wir machen die Websites nicht für uns, sondern für unsere (potentiellen) Kund*innen, Nutzer*innen, Fans etc.
Wie kann man mit nion digital in Kontakt treten, wenn man Unterstützung bei barrierefreien Webprojekten sucht?
Ihr findet mich natürlich auf LinkedIn, wo ich auch jederzeit gerne Fragen beantworte. Ansonsten haben wir auch für den Einstieg eine passende Landingpage https://nion.digital/a11y. Vielen Dank auch an Dich Sascha für die tollen Fragen. Das Interview hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ähnliche Formate und auch Workshops mache ich immer wieder gerne bei Firmen vor Ort und auch Remote.

Jens Franke
Geschäftsführer
nion digital GmbH
Mehr Infos unter: www.nion-digital.com/barrierefreiheit/

Sascha Tapken
Tel.: +49 178 386 00 90
s.tapken@homemadestorys.de